Von Marie Levine
Das «Global Shark Attack File»
(GSAF) gehört zu den wenigen grossen Datenbanken, die dem weit verbreiteten
Missverständnis über das angeblich blutrünstige Verhalten des Hais
entgegenwirken. Um den Hai zu entmystifizieren und das «JAWS-Image» abzubauen ist
es notwendig, möglichst viele exakte Daten über Haiangriffe
zusammenzutragen und zu veröffentlichen. Die Datenbank wird vom «Shark
Research Institute» (SRI) mit Hauptsitz in Princeton, New Jersey, USA,
unterhalten. Das GSAF dokumentiert mehr als 2'500 Unfälle von Tauchern,
Surfern, Schwimmern und Fischern und basiert auf einem Netzwerk von
Sachbearbeitern, die weltweit Haiangriffe untersuchen. Obwohl im GSAF auch
Unfälle vermerkt sind, die bis zum Jahr 1501 zurückreichen, werden
heutige Angriffe möglichst vollständig untersucht.
Im Folgenden wird die Methodik dargestellt, wie das GSAF heutige
Haiunfall-Berichte erstellt.
Wenn immer möglich werden die Wunden des Opfers noch vor der Operation
fotografiert. Normalerweise geschieht dies im Operations- oder im
Vorbereitungsraum durch das medizinische Personal oder durch GSAF-Mitarbeiter.
Solche Fotos sind zur Rekonstruktion des Unfallherganges und für die Suche
nach der involvierten Haiart unerlässlich. Röntgenassistenten und
Ärzte werden aufgefordert, nach Zahnfragmenten des Hais zu forschen. Solche
können die Bestimmung der beteiligten Haiart erleichtern. Schliesslich wird
die Wunde vermessen, inklusive der Abstände zwischen den einzelnen
Zahnabdrücken.
Das Opfer wird so früh wie möglich nach dem Unfall von
GSAF-Mitarbeitern kontaktiert und interviewt. In einem ersten Fragebogen werden
die Wahrnehmungen des Opfers über Umweltbedingungen, Verhalten des Hais und
zu möglichen unfallbegünstigenden Faktoren aufgenommen. Da aber viele
Hai-Opfer unter Gedächtnislücken zum Unfallhergang leiden - ähnlich
wie Opfer von Autounfällen und anderen traumatischen Erlebnissen - wird zu
einem späteren Zeitpunkt ein zweites Interview durchgeführt. Dies aber
erst dann, wenn sich das erste emotionale Trauma gelöst hat, alle
Unfallbeteiligten interviewt wurden und die Daten analysiert sind. Es werden auch
alle in den Unfall verwickelten Personen - wie z. B. Augenzeugen, Sanitäter,
Rettungsschwimmer, Polizisten, Strand- und medizinisches Personal - aufgesucht und
befragt.
Am Unfallort werden Umweltdaten - wie Wassertemperatur, Sichtweite,
Gezeitenhub, Salzgehalt des Wassers und Strömung - aufgenommen. Der Unfallort
wird fotografiert, und die zum Zeitpunkt des Unfalls vorgefundenen Umweltfaktoren,
die mit dem Unfall möglicherweise zu tun haben, aufgelistet. Dabei
können Delphine, Seehunde oder andere Meeressäuger eine wichtige Rolle
spielen sowie alle aussergewöhnlichen Aktivitäten von Fischen und
Vögeln. Wichtige Zeugen für die Seebedingungen zum Unfallzeitpunkt sind
auch ortsansässige Sport- und Berufsfischer.
Damit sind die Untersuchungen aber noch nicht abgeschlossen. Nun werden
eventuell vorhandene Abwässer von Kläranlagen aufgelistet, die Nähe
von Flüssen und Kanälen inklusive deren Wasserstand. Bei den lokalen
Meteostationen werden die Wetterdaten ab ca. einer Woche vor dem Unfalltag
eingeholt. Die Unfallstelle wird häufig auch durch Unterwasseraufnahmen
dokumentiert.
Auch alle Gegenstände rund um den Unfall werden zusammengetragen, wie vom
Hai zerbissene Surfboards sowie Nasstauch- oder Badeanzüge. Diese
Gegenstände werden sehr sorgfältig behandelt und dem Opfer nach
Abschluss der Untersuchungen zurückgegeben. In einigen Fällen wurde dem
SRI allerdings erlaubt, vom Hai zerbissene Surfbretter zu Ausbildungszwecken
zurückzubehalten. In den seltenen Fällen, bei denen es gelang, den Hai
zu fangen, werden Untersuchungen zu anatomischen, physiologischen und biologischen
Anomalien durchgeführt.
Die Auswertung umfasst auch die Analyse von Wetter-, ozeanographischen und
Umweltdaten. Die medizinische Auswertung beschreibt das Ausmass der Verletzungen
und die Behandlung des Opfers durch Rettungsmannschaft und Ärzte. Bei einem
tödlichen Ausgang befinden sich diese Daten üblicherweise im Autopsie-
oder Untersuchungsbericht. Die Erläuterungen können durch den
zuständigen Arzt gemacht werden. Für weitere Untersuchungen ist die
Einwilligung des Opfers notwendig. Diese Einwilligung ist auch im Fragebogen der
GSAF enthalten.
Aufgrund der Verletzungen des Opfers werden Art und Grösse des beteiligten
Hais bestimmt.
Manchmal zerbeisst der Hai während des Ereignisses weitere
Gegenstände. Diese können möglicherweise Teile von Zähnen oder
des Kiefers enthalten. Die Auswertung dieser Gegenstände umfasst das
Vermessen der Länge, Breite und Dicke sowie das Ausmass und die Position des
Bisses. Dabei werden auch die Abstände zwischen den Zentren der einzelnen
Zahnabdrücke und die Lücken zwischen den Zähnen vermessen.
Bei Surfboards, Paddelskis oder Körperboards werden Farbe und Musterung
der Ober- und Unterseite, Farbe und Position der Finne und die Farbe der Fussleine
festgehalten. Das Brett wird fotografiert, inklusive Nahaufnahmen des Bisses
zusammen mit einem Messband oder einem forensischen Zahnmuster. Mittels einer
Lichtquelle hinter dem Brett können Details des Bisses hervorgehoben
werden.
Grosse Zahnteile in der Wunde oder im Surfboard findet man mit
Röntgenstrahlen. Dabei besteht die Möglichkeit, kleine Fragmente zu
übersehen. Für Zahnfragmente unter 1 mm wird - wie bei Mammographien -
die Xero-Radiographie eingesetzt. Mit langen Öffnungszeiten und geringer
Leistung können so hohe Auflösungen erreicht werden. Dadurch werden auch
kleine Unterschiede zwischen Objekten mit geringen Dichten sichtbar.
Erst jetzt wird das Board nach Zahnfragmenten abgesucht. Dabei ist die Form der
Zahneindrücke für die Beschreibung der Haiart sehr behilflich. Auch
Stellen des höchsten Bissdruckes können nachgewiesen werden, da der
Schaumkern an diesen eine veränderte Durchlässigkeit für
Röntgenstrahlen aufweist. Dieser Vorgang erfordert längere
Öffnungszeiten als die Mammographie, doch ist dies bei nicht lebenden Objekte
nicht weiter schädlich. Nach einigem Experimentieren fanden wir heraus, dass
geringe Strahlung (30 kvp) und eine Öffnungszeit (200 - 240 mAs) die besten
Resultate ergaben.
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Xero-Radiographie eines Surfbrettes mit einem Bissabdruck eines
Weissen Haies. Die dreieckigen Abdrücke der Zähne sind durch Pfeile
markiert.
© Shark Info / GSAF
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Schliesslich wird mit einer stumpfen Sonde die Länge, Breite und Tiefe der
Zahnabdrücke vermessen (eine spitze Sonde würde die Zahnabdrücke
durchdringen und falsche Messungen liefern).
Bei Nassanzügen werden wie bei den Boards Farbe, Musterung und Dicke
festgehalten und fotografiert. Dabei kann die Ermittlung der Breite des Haibisses
ein Problem darstellen, da während des Angriffs das Bein möglicherweise
verdreht worden ist. Wird nun das Beinteil gestreckt, schliesst man
fälschlicherweise auf einen zu grossen Hai. Die Messung der Abstände
zwischen den Zentren der einzelnen Zahnabdrücke sowie die Lücken
zwischen den Zähnen und die Messung des Bissbogens sind nutzlos, wenn sie
nicht gleichzeitig mit einer Vergleichsperson derselben Grösse, Gewicht und
Statur kontrolliert werden. Diese Vergleichsperson muss den Anzug, die Handschuhe
oder Füsslinge anziehen und dieselbe Position wie das Unfallopfer
einnehmen.
Rettungsschwimmer, Rettungsmannschaften und Spitalpersonal müssen nach dem
Schaden am Anzug befragt werden (Ausnahme: normale Abnützung). Oft wird der
Nassanzug von den Rettern nicht entfernt, da er als Druckverband Verwendung findet
und Klammern über der Wunde angebracht werden. Solche Klammern können
den Anzug aufreissen und die Risse ähneln dann oberflächlichen Bissen.
(Auch bei Autounfällen wird das Opfer nicht notwendigerweise aus dem Auto
geborgen, sondern es wird umgekehrt das Auto vom Opfer entfernt. Ähnlich bei
Haiunfällen: Der Anzug wird vom Opfer weggeschnitten. Solche Schäden
können deshalb leicht mit vermeintlich vom Hai stammenden Rissen verwechselt
werden!) Viele Meerforschungsstationen unterhalten Sammlungen von Haigebissen, die
nach Art, Gesamtlänge, Gewicht und Geschlecht katalogisiert sind. Sobald der
Kiefer vermessen ist (z. B. anhand des Surfboards), die Abstände zwischen den
Eindruckstellen und die Haiart bekannt sind, wird es möglich,
Rückschlüsse auf Grösse und Gewicht des beteiligten Hais zu
ziehen.
Dies ist die letzte Phase jeder Untersuchung. Die Unfall-Ergebnisse werden in
standardisierter Form abgefasst, um Wissenschaftern die Identifizierung
allgemeiner Faktoren und der Hai-Verhaltensmuster zu erleichtern:
- Ort und Datum des Unfalls (Längen- und Breitengrad, Distanz zu
Referenzpunkten, z. B. Ortschaften).
- Name und Körperbeschreibung des Opfers inklusive Kleider und Schmuck
sowie Geräte, die vom Opfer benutzt wurden, einschliesslich Harpunen und
Surfboards.
- Generelle Angaben zu Wetter, Wasser und Umweltfaktoren zum Zeitpunkt des
Unfalls. Vermerkt werden auch Distanz zum Ufer, Zeitpunkt des Angriffs,
Wassertiefe und Position des Opfers. Die Angaben werden ergänzt durch Skizzen
des Unfallorts mit Angaben über Strand, Kanäle und
Gesteinsformationen.
- Ablauf des Unfalls in erzählender Form. Der Text umfasst auch die
subjektiven Eindrücke des Opfers sowie Augenzeugenberichte.
- Beschreibung der Verletzungen durch den Arzt, der das Opfer entweder im
Trauma-Zentrum oder im Operationsraum behandelte. Wenn Surfboards oder andere
Gegenstände zerbissen wurden, werden auch diese Schäden beschrieben.
Skizzen über Ort und Ausmass der Verletzungen des Opfers sowie Nahaufnahmen
(Fotos) des Bisses und der Wunden ergänzen die Beschreibung.
- Beschreibung der Ersten Hilfe und der medizinischen Versorgung
einschliesslich verabreichter Antibiotika.
- Beschreibung des Ablaufs der Unfalluntersuchungen. Diskussion und Analyse
dieser Daten, Skizzen der Biss-Schäden als Referenz für spezielle
Beschreibungen.
- Schlussfolgerungen.
- Anhang. Dieser Abschnitt umfasst Namen, Adressen und Telephonnummern des
Opfers und aller an der Untersuchung beteiligten Personen. Ablage der Dias in
archivierbarer Form. Fotos werden aufgezogen und zur Archivierung mit Folien
geschützt. Aufbewahrung der Negative in säurefreien Umschlägen.
Beigelegt werden auch die Photokopien aller medizinischen Berichte,
meteorologische und ozeanographische Daten, ausgefüllte Fragebogen,
Medienberichte und alle weiteren Informationen zum Unfall (auch wenn sie zum
Zeitpunkt der Verfassung des Berichts als unwichtig erschienen).
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* Marie Levine ist Leiterin des Shark Research Institute in
Princeton und ist verantwortlich für das Global Shark Attack File.
Veröffentlichung nur mit Quellenangabe: Shark Info / Marie Levine
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