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Shark Info   (15.02.1999)

Author

  Intro:

Haiunfälle oder Haiangriffe 2/2

Dr. E. K. Ritter

  Hauptartikel:

Welche Haiarten sind überhaupt gefährlich?

Dr. E. K. Ritter

  Artikel 1:

Das Global Shark Attack File (GSAF)

Marie Levine

  Fact Sheet:

Die Biologie des Riesenmaulhais

Dr. J. F. Morrissey


Welche Haiarten sind überhaupt gefährlich?

Von Dr. Erich K. Ritter

Bullenhai

Der Bullenhai (Carcharhinus leucas) gehört zu den potentiell gefährlichen Haien. Diese sehr massive Haiart kann bis zu 350 cm lang und 230 schwer werden.

© Shark Info / Doug Perrine

Schon in der Fragestellung versteckt sich das erste Problem. Haie als solche sind nicht gefährlich. Es sind lediglich die Umstände, die zu Situationen führen können, die für Menschen gefährlich sind. Viele Leute werden nun sagen, dies sei Haarspalterei. Doch es ist ein grosser Unterschied, ob ein Tier als gefährlich betrachtet werden muss, oder ob es nur gewisse Situationen sind, die gefährlich sein können. Es gibt viele Situationen, in denen auch bei Anwesenheit eines grossen Hais keine Gefahr besteht. Den gefährlichen Hai gibt es ebenso wenig wie auch kein aggressiver Hai existiert. Natürlich gibt es Haiarten, denen man sich - rein von der Grösse her - mit Vorsicht nähern sollte. Die Körpergrösse ist ein Problem im Umgang mit Haien. Doch obwohl die meisten Haie, die im Fernsehen oder in Aquarien gezeigt werden, meist von stattlicher Grösse sind, muss hervorgehoben werden, dass von den über 460 Haiarten nur ein sehr geringer Bruchteil so gross wird, dass sie einen Menschen ernsthaft verletzen können. Die Mehrzahl der Haiarten ist dafür zu klein. Die Grösse allein spielt jedoch nur eine mittelbare Rolle. Wichtig ist vielmehr die Tatsache, dass viele grosse Haiarten Beutetiere haben, die in ihrer Grösse mit einem Menschen vergleichbar sind. Um nun in der Lage zu sein, solche Beutetiere zu attackieren, braucht es notwendigerweise die entsprechenden «Werkzeuge». Dass die Gebisse beim Kontakt mit Menschen schwere Wunden zur Folge haben können, ist nachvollziehbar. Doch sind diese Gebisse unabhängig vom Menschen entwickelt worden, um im Gefüge der Natur zu bestehen. Doch wir Menschen sehen die Natur und ihre Bewohner oft aus einem sehr engstirnigen, anthropozentrischen Blickwinkel, sodass der wahre Sachverhalt völlig überschattet wird. Die eigentliche Gefahr liegt nämlich nicht in der Präsenz der Haie, sondern darin, dass wir Menschen, wenn wir uns im Meer befinden, von unserer Grösse her durchaus ins Beutespektrum grosser Haie passen. Dies und die fehlende Fähigkeit der Haie zur abschliessenden Analyse dessen, was auftaucht und durch seine Schwingungen ein Beutetier vorgaukelt (siehe auch in Shark Info 2 / 98 «Haiangriffe - ein andauernd faszinierendes Rätsel»), sind die wesentlichsten Faktoren für die mögliche Gefährlichkeit von Haien. Die eigentliche, respektive unmittelbare Gefährlichkeit wird dann durch die Höhe der Hemmschwelle des Hais gesteuert, sich etwas Unbekannten zu nähern. Die Gefahr liegt also nicht per se im Tier als solchem, sondern darin, dass wir in den Grössenbereich der Beutetiere passen, uns im Bereich der Haie aufhalten und vom Hai nicht analysiert respektive als «Nicht-Beute» ausgeschieden werden können.

Mit welchen Haiarten können Begegnungen unter ungünstigen Umständen problematisch werden?

An dieser Stelle kommt jeweils, folgt man den gängigen Gefährlichkeitslisten von Haien (z. B. International Shark Attack File ISAF, eine Institution, die Haiangriffe analysiert und sammelt), an erster Stelle der Weisse Hai (Carcharodon carcharias), gefolgt vom Tigerhai (Galeocerdo cuvier) und dem Bullenhai (Carcharhinus leucas). Die Rangliste wird aufgrund meist fragwürdiger Statistiken von Haiunfällen zusammengestellt. Dem Leser der Statistiken soll weisgemacht werden, dass rund 78% aller Angriffe nicht vom Menschen provoziert worden seien, und im Falle des Weissen Hais sollen es sogar 98.7% aller Fälle sein, wo das Tier «unprovoziert» attackierte. Soll das wirklich bedeuten, dass der Hai nahezu immer «einfach so» zubiss, ohne vorher provoziert worden zu sein? Genau das wollen uns die Statistiken wie diejenige des ISAF einreden. Doch es ist eine Tatsache, dass bei genauer Analyse gezeigt werden kann, dass sich das spätere Opfer in eine Situation begab oder sich bereits darin aufhielt, die eine Reaktion des Hais nach sich zog - für Haie eine Herausforderung, eine Provokation. Die Angriffs-Statistiken müssen daher von diesen nutzlosen und nicht diskutierten Zahlen wegkommen. Nicht vorbelastete Leserinnen und Leser, die zufällig z. B. im Internet auf solche Tabellen stossen, bekommen sonst ein völlig falsches Bild über die tatsächliche Gefährlichkeit der Haie. Nicht nur, weil die Zahlen zu Ungunsten der Haie verdreht werden, sondern auch darum, weil versäumt wurde zu erklären, was wirklich passiert ist. Und nicht jeder kennt sich bei den Haiarten genügend gut aus, um zu realisieren, dass in diesen Tabellen auch Arten genannt werden, die gerade einmal eine Maximallänge von 50 cm aufweisen (z. B. der Zigarrenhai Isistius brasiliensis) und die Menschen wohl nicht ernstlich bedrohen. Trotzdem: Laut ISAF fallen auch diese Zwerge unter diejenigen Haiarten, die angeblich unprovoziert attackieren!

Ist schlussendlich eine Gefahr vorhanden?

Zwar hat es durchaus seine Berechtigung, Unfälle in einem Zusammenhang mit der Gefährlichkeit zu nennen, doch viele der aufgeführten Unfälle müssen mit einem grossen Fragezeichen versehen werden. Nimmt man solche Statistiken trotzdem als Massstab für die potentielle Gefährlichkeit von Haien, stellt man fest, dass nur etwa 25 von über 460 existierenden Haiarten nachweislich mehr als einmal in einen Unfall verwickelt waren. Daneben gibt es weitere 10 bis 15 Arten, die nur einmal in einen Unfall verwickelt waren. Dementsprechend können die potentiell gefährlichen Situationen auf rund 9% aller Haiarten reduziert werden. Dieser geringe Prozentsatz lässt jedoch keinen Schluss auf die Häufigkeit zu. Grössere Tiere, respektive Arten, kommen aufgrund ihres Energieverbrauchs wesentlich seltener vor als ihre kleineren Verwandten. Deshalb ist deutlich festzuhalten, dass die wenigen Haiarten, die in bestimmten Situationen tatsächlich Schaden anrichten können und somit als potentiell «gefährlich" gelten, schon aufgrund ihrer Seltenheit die omnipräsente Gefährlichkeitshysterie keinesfalls rechtfertigen.

Die «gefährlichsten" Haie

Nachfolgend werden die drei wichtigsten Arten bezüglich Unfallstatistik kurz erläutert und es wird beschrieben, was diese Tiere so aussergewöhnlich macht. Obwohl auch allen anderen Arten Platz eingeräumt werden müsste, werden hier drei Arten stellvertretend aufgeführt. Zu den Unfällen: Der «unprovozierte» Angriff ist nur eine Etikette, die diesen Tieren angehängt wird. Eine bessere Analyse würde jedoch zeigen, dass es meist der Mensch ist, der Fehler begangen hat.

Weisser Hai (Carcharodon carcharias)

Die «Gefährlichkeit" dieser Art liegt zweifellos in ihrer Grösse und in ihrer Neugier, mit der sie sich der vermeintlichen Beute nähert. Weisse Haie, wie auch andere Arten, besitzen keine Möglichkeit, ein unbekanntes Beuteobjekt abschliessend zu analysieren. Entsprechend selten wird mit dem Maul getestet und das Objekt mit den Geschmacksknospen untersucht. Die Neugier dieser Tiere darf aber nicht mit einem eigentlichen Zubeissen gleichgesetzt werden. Die in über 98% der Unfälle angegebenen «unprovozierten Angiffe» sind daher nicht nur falsch, sondern beschreiben auch eine falsche Biologie. Oft hört man, dass der Weisse Hai Surfer mit Seehunden verwechselte und deshalb zubiss. Eine sehr passende Theorie, wenn man Haie als dumme Kreaturen betrachtet. Doch diese und andere Theorien waren nur deshalb akzeptiert, weil sie niemand anzweifelte und widerlegte (siehe auch in Shark Info 2 / 98 «Haiangriffe - ein andauernd faszinierendes Rätsel»). Neuere Untersuchung zeigen jedoch, dass viele angebliche Tatsachen nichts weiter sind, als erste Ideen von Wissenschaftern. Da aber Wissenschafter früherer Generationen ihre Theorien weder untermauern konnten noch wollten, und die heutigen Forschungsgelder eher in anderen Gebieten eingesetzt werden, bleiben diese Theorien nach wie vor Massstab aller Dinge. Eine neue Generation von Wissenschaftern ist jedoch nun daran, die alten Theorien detailliert zu untersuchen und zu verifizieren. Dass Weisse Haie irrtümlich Surfer mit Seehunden verwechselten, oder dass sie zubissen und sich zurückzogen, um sich etwa vor den Krallen oder einem Biss des Opfers zu schützen, wird man bald nur noch als Anekdoten zitierten. Die eigentliche Gefährlichkeit der Tiere liegt schliesslich eher darin, dass ihr Verhalten nach wie vor mit zu vielen Fragezeichen behaftet ist. Obwohl beim Schwimmen oder Tauchen mit Weissen Haien selbstverständlich die grösste Vorsicht angezeigt ist, darf schon jetzt gesagt werden, dass sie mit derjenigen Art, die jahrelang - als Bestie verschrien - die Kinosäle füllte, nicht im geringsten verwandt sind.

Tigerhai (Galeocerdo cuvier)

Die Tigerhaie gehören zweifellos zu den am wenigsten beschriebenen und mit den meisten Fragezeichen behafteten Grosshaiarten. Obwohl sie wesentlich häufiger vorkommen als die ebenso grossen Weissen Haie, befanden sie sich nie im Fokus der Verhaltensforschung. Tigerhaie verfügen über die wohl perfekteste Zahnstruktur aller Haie. Diese ermöglicht ihnen, zusammen mit ihrer Grösse, nahezu jede Beutetiergruppe erfolgreich zu erlegen. Entgegen den alten Theorien, in denen Allesfresser als primitiv angeschaut wurden, geht man heute davon aus, dass diese Form der Ernährung eine hohe Spezialisierung darstellt. Denn dadurch sind diese Tiere bei Nahrungsknappheit in der Lage, von einer Beute auf eine andere zu wechseln. Tigerhaie leben in warmen Gewässern, daher kommen sie mit den Menschen auch vermehrt in Kontakt. Auch ihr breites Beutespektrum macht eine mögliche Konfrontation wahrscheinlicher, nicht zuletzt darum, weil wir Menschen unbewusst auch als Konkurrenten auftauchen. Sowohl Tigerhaie als auch Weisse Haie sind neugierige Tiere. Diese Tatsache darf jedoch nicht als Aggressivität missverstanden werden, denn sie widerspiegelt lediglich die Natur dieser Tiere.

Bullenhai (Carcharhinus leucas)

Viele Menschen glauben, dass dies die wohl gefährlichste Art darstellt: Schnell, kraftvoll und mit einem Gebiss ausgerüstet, das keinen Vergleich mit dem Tigerhai oder dem Weissen Hai zu scheuen braucht. Doch das wahre Problem dieser Haiart liegt wohl eher darin, dass sich die Tiere in Ufernähe aufhalten und nicht selten auch in Flussmündungen zu finden sind. Flüsse bringen Süsswasser und viel Nahrung ein, die oft abstirbt, wenn sie mit Salzwasser in Kontakt kommt. Die breite Palette von Nahrungsmitteln lockt eine Fülle von Organismen an - nicht zuletzt auch Haie. Brackwasser ertragen aber nur wenige Haiarten, und es bedarf physiologischer Anpassungen, die für den Haikörper Stress bedeuten können. Das Gemisch aus Süss- und Salzwasser ist meistens mit einer hohen Konzentration organischer und anorganischer Stoffe angereichert, was eine geringe Sichtweite zur Folge hat. Die in diesen Regionen schwimmenden Bullenhaie haben sich dabei nicht nur mit ihren physiologischen Anpassungen auseinanderzusetzen, sondern auch mit einer Überdosis elektrischer Felder, die durch all diese Stoffe verursacht werden. Die schlechte Sicht kann dann dazu führen, dass eine Konfrontation mit Menschen zu einem Unfall führt, da die Beiss-Hemmschwelle durch die ausserordentlichen Umweltverhältnisse stark reduziert wird.

Jede Haiart, die irgendwann in einen Unfall verwickelt wurde, müsste in ihrer Biologie detailliert beschrieben werden. Es ist schon so: Irgendwo und irgendwann hat ein einziges Tier einer Haiart zugebissen - mit grösster Sicherheit deshalb, weil es provoziert worden war - und mehrere Generationen später wird noch immer die gesamte Art aufgrund dieses einzigen Vorfalls als gefährlich bezeichnet. Und dies unabhängig davon, ob dieses einzelne Tier tatsächlich schuldig war oder nicht. Den Haiunfällen und in ihrer Folge der Anprangerung des Hais wird in den menschlichen Köpfen keine Verjährung zugestanden! Bleibt nur zu hoffen, dass spätere Generationen realisieren und begreifen werden, wie die scheinbare Gefährlichkeit der Haie wirklich einzustufen ist.

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* Dr. Erich K. Ritter ist Haibiologe und Adjunct Assistenz Professor an der Hofstra Universität, New York.

Veröffentlichung nur mit Quellenangabe: Shark Info / Dr. Erich K. Ritter



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modifiziert: 04.06.2016 11:48