Von Dr. Erich K. Ritter
Verwenden
Menschen ihre Gefühle, um Lebewesen zu beschreiben wird dies als Anthropomorphismus bezeichnet.
Das geht vom «bösen» Wolf, bis hin zum «schlauen» Fuchs, «tollpatschigen"
Bären» oder der «falschen» Schlange. Dabei ist es nicht so, dass das Verhalten dieser
Tiere den Attributen wirklich entspricht, sondern Menschen empfinden, sehen oder interpretieren es in
dieser Weise. Es erstaunt also nicht, dass bestimmten, meist gefürchteten Tiergruppen wie
Schlangen oder Haien, selten Attribute zugeordnet werden, die eine positive Haltung des Beobachtenden
ausdrücken. Der "liebe" Hai wirkt für viele ebenso grotesk wie die "ehrliche"
Schlange. Doch gerade weil Menschen gewissen Tiergruppen Etiketten verpassen, haben es einige Arten
ungleich schwerer als andere, akzeptiert zu werden. Hierfür ist der«aggressive» Hai
wohl eines der besten Beispiele.
Oft treten Menschen an mich heran, die mir
ihre spezielle Haigeschichte erzählen und darüber diskutieren möchten. Die
Geschichten beginnen und enden fast immer gleich - und meistens spielen aggressive Haie dabei eine
zentrale Rolle. Doch wenn ich dann frage, weshalb der Hai zum Schluss nicht zugebissen hat, beginnt
die Diskussion zu versiegen. Der Erzähler hat keine logische Antwort darauf, weshalb der doch so
«aggressive» Hai dann nicht auch zubiss.
Sollte hier die Natur einen Unterschied gemacht und
Kreaturen entwickelt haben, die sowohl aggressiv als auch harmlos sind? Wohl kaum, einmal mehr
wurden Beobachter Opfer ihrer eigenen Fantasien und Vorurteile, einmal mehr verdeckt eine
anthropomorphe Betrachtungsweise die Realität. Den aggressiven Hai gibt es
genausowenig, wie den lieben Hai. Er ist lediglich ein Gebilde unserer Fantasie. Das
Erstaunliche hierbei ist, dass aggressive Haie vorwiegend bei zwei Gruppen von Tauchern
auftreten, bei Anfängern und bei erfahrenen Haitauchern, die sich vorwiegend in ein und
demselben Tauchgebiet aufhalten.
Dass ein Anfänger oder ein Schwimmer einen aggressiven
Hai gesehen haben möchte, ist leicht nachvollziehbar. Jeder Hai über einem Meter Länge wirkt
gefährlich, eine Angst, die durch all die reisserischen Haifilme und Medienberichte suggeriert
wird. Doch weshalb fallen erfahrene Haitaucher diesem Phänomen zum Opfer? Meine Erfahrung aus den
vielen Gesprächen zeigt, dass diese Taucher meistens regelmässig an einem bestimmten Ort
tauchen und sich allmählich an die Haie dieser Region gewöhnt haben. Nicht selten treffen
sie dort immer wieder dieselbe Haiart oder ganz bestimmte Haiarten an. Die anfängliche
Zurückhaltung der Taucher weicht mit der Zeit einer zunehmend forscheren Form, sich diesen Haien
zu nähern. Bald vermeint man sich durchaus imstande, ein Treffen mit einem Hai abschätzen zu
können. Man weiss, wie nahe man an den Hai herankommt, respektive wie nahe sich eine bestimmte
Haiart an den Taucher heranwagt. Früher oder später entwickelt sich dann im
Unterbewusstsein dieser Taucher ein Distanzgefühl für die Begegnung mit dieser Haiart und
man weiss genau, wann dieser oder jener Hai abdrehen wird. Doch genau dieses scheinbare
Vertrautsein in das Verhalten einer Haiart ist der Ursprung der aggressiven Haie.
Unterschiedliche Haiarten besitzen unterschiedliche Annäherungs- oder Abdrehdistanzen
und Aufmerksamkeitszonen, die auch der innere oder äussere Kreis genannt werden.
Trifft nun ein in Haisachen erfahrener Taucher, der gewohnt ist, mit einer bestimmten Art zu tauchen,
plötzlich auf einen Vertreter einer anderen, unbekannten Haiart, die zum Beispiel eine geringere
natürliche Abdrehdistanz hat, erschrickt er. Achtung! Hai kommt wesentlich näher als
gewohnt! Und die erste Reaktion ist ein Zurückziehen. Kommt nun dieser Hai wesentlich näher,
ist er auch optisch wesentlich dominanter und verschiedene, aus der Ferne nicht wahrnehmbare Details
erhalten eine neue Dimension: das Drehen der Augen, das Herunterdrücken der Brustflossen um
abzudrehen sind auf kurze Distanz sehr eindrücklich. Ein weiteres Signal wird im Unterbewusstsein
ausgelöst: Achtung! Hai dreht Augen, drückt Brustflossen hinunter! Diese bewusstere
Wahrnehmung von bisher nicht in diesem Masse beobachteten Details hat zur Folge, dass der Taucher
überzeugt ist, hier einen "aggressiven" Hai vor sich zu haben. Doch dieser scheinbar
"aggressive" Hai war eben nichts weiter als ein Vertreter einer anderen Art, mit einer
geringeren Abdrehdistanz als gewohnt.
Es ist generell
falsch, Tiere durch Klischées zu beschreiben. Diesem Umstand muss Rechnung getragen werden, wenn
Tierkampagnen ins Leben gerufen werden. Kuscheltiere zu schützen ist einfach. Wer stellt sich
nicht gerne hinter Aktionen wie «Free Willy», «Rettet die Wale» oder «Schluss
mit dem Abschlachten von Robbenbabys»? Nicht alle Tiere haben das Glück, in unser
menschliches Kindchen-Schema zu passen und damit unsere Schutzinstinkte zu wecken. Doch es
sind vielleicht gerade diese Tiere, die es zu schützen gilt, wenn wir auch in Zukunft in einem
intakten Ökosystem leben möchten.
* Dr. Erich K. Ritter ist Haibiologe
und Adjunct Assistenz Professor an der Hofstra Universität, New York.
Veröffentlichung nur mit Quellenangabe: Shark Info / Dr. Erich K. Ritter
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