Von Dr. John F. Morrissey
Die Welt ist voll von Hai-Enthusiasten, die einen scheinbar
unstillbaren Appetit auf jede Art von Information haben, die sie über Haie bekommen können.
Glücklicherweise wird weltweit ein steter Strom von Büchern, Artikeln, Dokumentationen und
Filmen produziert, um diesen Appetit zu stillen. Schade nur, dass ein sehr grosser Teil dieser Quellen
falsche oder falsch interpretierte Informationen liefert. Einige dieser Fehlinformationen sind die
Schöpfung nur eines einzelnen Autors. Die meisten Fehler werden dann jedoch so oft wiederholt,
von Quelle zu Quelle abgeschrieben und kopiert, dass viele von uns sie mit der Zeit als Tatsachen
akzeptieren und sie nicht mehr hinterfragen. Es ist unausweichlich, dass derartige Fehlinformationen
mit der Zeit ein regelrechtes Eigenleben entwickeln. Haben sie einmal Fuss gefasst, werden sie immer
häufiger zitiert und kopiert und prägen so das Dogma der Haie immer stärker. Ziel dieses
Artikel ist es, einige dieser «falschen Wahrheiten» aufzudecken, die mit bedenklicher
Regelmässigkeit immer wieder in den Medien auftauchen.
Das Ziel dieser nichtssagenden Aussage, die man in verschiedensten
Versionen immer wieder in den Medien antrifft, ist klar. Der Autor möchte damit ausdrücken,
dass Haie einen ausgesprochen guten Geruchssinn besitzen. Das stimmt auch: Haie können in ihrem
Umfeld Gerüche in extrem geringen Konzentrationen wahrnehmen. Aber dass Haie Blut aus Kilometern
Entfernung wahrnehmen können, sagt dem Leser absolut nichts über den Geruchssinn der Haie.
Der Grund dafür ist, dass der Autor die Riechleistung der Haie in Relation zur Entfernung von der
Quelle des Geruchsstoffes setzt. Er sagt nichts über die Konzentration des Geruchsstoffes aus,
die vom Hai wahrgenommen werden kann. Doch gerade das ist entscheidend. Die effektive Distanz zur
Quelle ist irrelevant. Zum Beispiel haben wir Menschen einen wesentlich schlechteren Geruchssinn als
Haie. Dennoch könnten auch wir Blut aus Kilometern Entfernung riechen, wenn die Menge des Blutes
so gross wäre, dass die Geruchsstoffe in ausreichender Konzentration unsere Riechschleimhaut
(die Nase) erreichen würden. Ich habe einmal den Rauch eines 100 Kilometer entfernten Waldbrandes
gerochen! Aber das nicht, weil ich einen so ausgesprochen phantastischen Geruchssinn wie ein Hai habe,
sondern weil die Quelle des Geruches (das Feuer) so gross war, dass eine ausreichende Menge des Rauches
aus 100 Kilometern meine Nase erreichen konnte.
Die Konzentration der Geruchsstoffe ist wichtig. Die entscheidende Frage
ist entsprechend: überschreitet die Konzentration der vorhandenen Geruchsstoffe die Wahrnehmungsschwelle
eines Hais (oder Menschen)? Nur auf dieser Ebene kann man über die Geruchsleistungen einer Art richtig
diskutieren. Alle Aussagen über Entfernungen haben nichts mit der Frage zu tun und sind irrelevant.
Also, was ist Tatsache? Wie leistungsfähig sind die Nasen der Haie nun wirklich? Haie
können die meisten Aminosäuren, den Grundbestandteil von Proteinen, noch in Konzentrationen
von 10-10 molar wahrnehmen (eine einmolare Lösung ist das Molekulargewicht einer
Substanz in Gramm aufgelöst in einem Liter Wasser). Erlauben Sie mir, diese erstaunliche
Sinnesleistung etwas allgemeinverständlicher auszudrücken. Erstens bedeutet das, dass
Haie einen Geruchssinn haben, der etwa 10 000 Mal besser ist als der des Menschen. Zweitens, um
diese Konzentration zu erreichen, müsste man 30 mg (eine halbe Messerspitze voll, Anm. d. Red.)
einer Aminosäure in einem grossen Schwimmbecken auflösen! Drittens, ein solches Schwimmbecken
hat ein Volumen von 2 600 Kubikmetern und diese Menge Salzwasser enthält 3.5% Kochsalz und andere
Ionen, also etwa 92 Tonnen Salz. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass ein Hai diese paar Milligramm
der Aminosäure zwischen den Tonnen von Salz noch wahrnehmen kann. Viertens, Haie können gewisse
Aminosäuren sogar noch besser wahrnehmen. Zum Beispiel riechen sie die Aminosäure Serin noch in
Konzentrationen von 10-14 molar! Fünftens und letztens muss allerdings
auch gesagt werden, dass diese Sinnesleistungen zwar aus der Sicht des Menschen erstaunlich
sind, für andere Tiere aber durchaus nichts Besonderes. Ganz alltägliche Tiere wie
Hummer oder Welse haben einen vergleichbaren, wenn nicht besseren Geruchssinn als die Haie.
Für alle Vergleiche von Leistungen der Chemorezeption wie
dem Geruchssinn gilt jedoch, dass sie in Relation zur Konzentration des Geruchsstoffes und nicht
zur Entfernung von seinem Ursprung gemacht werden müssen.
Diese Aussage ist noch nichtssagender als die erste. Der
ersten Aussage kann man zumindest zugute halten, dass sie im Prinzip nicht falsch ist, denn
Haie haben einen sehr guten Geruchssinn. Sie ist nur nichtssagend, da sie auf der wenig
aussagekräftigen Einheit Distanz statt der korrekten Einheit Konzentration basiert.
Diese zweite Aussage versucht jedoch anzudeuten, dass Haie nicht sehr intelligent seien und
begründet dies mit einem wenig zweckmässigen Vergleich.
Lassen Sie uns diese Aussage 2 einmal auseinandernehmen,
um festzustellen, was wirklich daran ist.
Erstens sind Haie, wie alle räuberischen Wirbeltiere,
relativ intelligent. Das müssen sie sein, denn sie müssen ihre Beute fangen. Ihre
Beute sind in der Regel Pflanzenfresser, die nicht besonders intelligent sind, da sie nur Gras
«fangen» müssen! Zweitens sind Angaben über absolute Hirngrössen
wenig aussagekräftig. Ist ein Otter dümmer als ein Hund, nur weil sein Hirn kleiner
ist? Ist ein Hund dümmer als ein Elch, nur weil das Hirn eines Elches grösser ist als
das eines Hundes? Die Antwort ist natürlich Nein. Absolute Hirngrössen anzuführen
(«das Gehirn eines Haies ist so gross wie ein Golfball») ist sinnlos.
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Das Verhältnis von Hirn- zu Körpergewicht bei
verschiedenen Wirbeltieren nach Glen Northcutt.
Haie haben im Vergleich zu den anderen Klassen
relativ grosse Gehirne.
© Shark Info
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Es ist jedoch sehr nützlich, relative Hirngrössen
miteinander zu vergleichen. Der Vergleich von Arten auf der Basis der relativen Hirngrösse,
ausgedrückt im prozentualen Verhältnis von Hirngewicht zu Körpergewicht ergibt
vernünftige Werte für deren relative Intelligenz. Glenn Northcutt konnte 1978 zeigen,
dass Haie im Vergleich zu ihrer Körpergrösse, ein grösseres Gehirn haben als die
meisten Knochenfische, die meisten Vögel und viele Säugetiere. Dies war zu erwarten,
da fast alle Haie Fleischfresser sind und als Jäger brauchen sie grössere, beziehungsweise
intelligentere Gehirne als ihre Beute.
Drittens und letztens: Unabhängig von der
Intelligenz von Haien im Vergleich zum Rest des Tierreiches ist Aussage 2 absolut
nicht sinnvoll. Stellen Sie sich einen Hai mit einem Gehirn der Grösse eines Golfballes
vor. Welche Haiart? Und wie alt ist dieser Hai? Ist der Hai ein ausgewachsener Dornen
Pygmäenhai (Squaliolus laticaudus), eine Art, die eine maximale Grösse von
15 cm erreicht? Wenn ja, würde diese Art wie ein Lutscher aussehen (und wäre
wahrscheinlich SEHR intelligent!) In Wirklichkeit ist das Gehirn von
Squaliolus sehr viel kleiner als ein Golfball, das ist auch richtig so, bedenkt man
seine Körpergrösse. Oder ist der Hai etwa ein ausgewachsener Walhai (Rhincodon typus)
eine Art, die bis zu 12 m lang wird? Das wäre dann wohl der Welt dümmster «Fisch».
In Wahrheit hat der Walhai ein zirka 1 m langes Gehirn (das seiner Körpergrösse entspricht).
Oder ist der fragliche Hai ein Baby-Zitronenhai (Negaprion brevirostris) von 45 cm Länge?
Ein Gehirn von der Grösse eines Golfballes wäre genau richtig für solch einen jungen
Hai. Aber was ist 15 Jahre später, wenn der Hai ausgewachsen und 3 m lang ist? Dann wäre
das Golfball-Gehirn gerade mal halb so gross wie eines seiner Augen und faktisch nutzlos.
Offensichtlich wächst das Gehirn des jungen Haies während seines Lebens. Deswegen
sind allgemeine Aussagen über absolute Gehirngrössen absolut nichtssagend. Vergleiche
von Hirngrösse in Relation zur Körpergrösse hingegen (die wiederum in Relation
zur Art und dem Alter des Haies stehen) sind aussagekräftig.
Ich hoffe, dass dieser Artikel Ihre Wahrnehmung leicht geändert
hat und dass er sie motivieren wird, in Zukunft gewisse Publikationen mit noch kritischerem Auge
zu lesen.
* Dr. John F. Morrissey ist Assistenzprofessor an der Hofstra
Universität, New York und einer der führenden Haiforscher auf seinem Gebiet.
Veröffentlichung nur mit Quellenangabe: Shark Info / Dr. John F. Morrissey
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