Von René Kindlimann
Carcharocles megalodon, der «Grosszahn-Hai», wird
oft als der ausgestorbene direkte Vorfahre des heute lebenden Weissen Hais
(Carcharodon carcharias) bezeichnet. In der Wissenschaft ist diese Ansicht jedoch nicht
unumstritten.
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Grössenvergleich: Links der Zahn eines heutigen
Weissen Haies und (Carcharodon carcharias) rechts von Megalodon (Carcharocles megalodon)
© Shark info
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Es ist auch darauf hinzuweisen, dass alle heutigen Kenntnisse über den Grosszahn-Hai auf den
recht häufigen Funden von Zähnen dieses wohl unbestritten riesigsten aller Raubfische
basieren.
Haizähne waren schon den Menschen der Antike bekannt. Damals sahen Griechen, Römer und
andere
Völker in ihnen
Schlangenzungen, Donnerkeile oder sonstige «göttliche Zeichen». Erst nach der Renaissance
erkannte die aufkommende «moderne Wissenschaft», dass es sich bei den vermeintlichen, göttlichen
Zeichen tatsächlich um Haizähne handelte. Diese Erkenntnis weckte das Interesse der
Wissenschafter, schlagartig entstanden viele Fragen. Das verstärkte Interesse mag auch darauf
zurückzuführen sein, dass die riesigen «Megalodon»- Zähne die Phantasien besonders
anregten und Rekonstruktionen davon, den damaligen Geschmack des Aussergewöhnlichen trafen.
Im in jener Zeit aus der Zoologie neu entstandenen Wissenschaftszweig, der Paläontologie,
begann sich die Forschung intensiver mit ausgestorbenen Lebensformen zu befassen. So fanden die Haie,
neben Dinosauriern und anderen Tieren der Erdgeschichte, vermehrt grosse Beachtung. Bereits 1843
veröffentlichte der Schweizer Naturforscher Louis Agassiz sein Werk über sämtliche zu
seiner Zeit bekannten fossilen Fische. Darin widmete er ein gewichtiges Kapitel diesen monströsen
Zähnen. Unter anderem begründet durch die Ähnlichkeit der Zähne, sahen er und
viele andere Forscher jener Tage in diesem Tier einen direkten Vorfahren des heutigen Weissen Hais.
Diese Sichtweise hielt sich, wohl auch begünstigt durch den Stellenwert des Werks von Agassiz in
der Fachwelt, für lange Zeit.
Angeregt durch neue Funde und ein neues Verständnis der Paläontologie, versuchten
verschiedene Forscher nach dem zweiten Weltkrieg die verwandtschaftlichen Verhältnisse innerhalb
der Gattung Carcharodon neu zu definieren. Dabei ging man davon aus, dass die
stammesgeschichtlichen Verhältnisse viel komplexer als angenommen waren. Mit dem Ziel, die
festgefahrene Systemstruktur der bislang einzigen Gattung Carcharodon aufzubrechen, definierte
der belgische Paläontologe Casier 1946 die neue Gattung Procarcharodon. Dadurch
ermöglichte er eine offenere Denkweise bei der Bestimmung der Herkunft und der
entwicklungsgeschichtlichen Etappen dieser Grosshaie. 1952 erschien eine Publikation des Franzosen
Camille Arambourg, der Fossilien der frühtertiären marokkanischen Phosphatschichten
untersuchte. Darin fand er auch Zähne einer bis dato unbekannten Haiart, die er aufgrund eher
primitiver Merkmale "Paläocarcharodon» nannte und in die Entwicklungsreihe von
Carcharodon stellte. Paläocarcharodon stammte aus dem Paläozän und war
somit der älteste bekannte, mögliche Vorfahre von Carcharodon.
Die nahezu globale Verbreitung (Marokko, Russland, Dänemark, USA) verstärkte die Position
dieser Art als möglicher Vorläufer von Carcharocles und Carcharodon. Die
Situation änderte sich, als Henri Cappetta (Montpellier) 1987 sein "Handbuch der
Paläoichthyologie» veröffentlichte. Anders als die meisten Autoren, die sich mit der
Entwicklung der Haie befassten, überraschte und brüskierte er die Fachwelt mit der Annahme,
dass Isurus hastalis (ein grosser Makrelenhai), in Anbetracht morphologischer Besonderheiten im
Bau der Zähne, als unmittelbarer Vorläufer von Carcharodon carcharias zu gelten habe.
Zur Untermauerung seiner These, benannte er zudem Procarcharodon um in Carcharocles und
plazierte die ganze Gattung um in die Otodontiden (eine ursprünglichere Familie der lamniformen
Haie). Seiner Ansicht nach gehörte Procarcharodon nicht in die direkte Entwicklungslinie
von Carcharodon selbst, sondern in eine Nebenlinie, die ohne weitere Nachkommen im unteren
Pliozän ausstarb.
Die Fachwelt reagierte heftig und kontrovers. Trotzdem fanden die Ansichten Cappettas mehrheitlich
Akzeptanz und damit Einzug in die neueren Arbeiten. Funde aus Peru (1985) stützten in
eindrücklicher Weise die These Cappettas und zeigten markante Übergangserscheinungen von
Isurus hastalis zu Carcharodon carcharias. Obwohl die Belege eine deutliche Sprache
sprechen, schaffen sie widerum mehr neue Fragen, als sie Antworten zu geben vermochten. In
jüngster Zeit (1996) publizierte eine amerikanische Projektgemeinschaft zum Thema
«Entwicklungsgeschichte und Biologie des Weissen Haies» neue Hypothesen, die das alte
Entwicklungsschema von Paläocarcharodon über Carcharocles zu Carcharodon
wieder belebt. Danach werden alle fossilen Vertreter dieser Gruppe direkt der Gattung
Carcharodon zugerechnet und auch als Carcharodon bezeichnet. Als Stammform der
Carcharodontiden wird die kreidezeitliche Gattung Cretolamna appendiculata angenommen.
Diese starke Vereinfachung in eine einzige, linear verlaufende Entwicklungslinie bringt den aktuellen
Forschungstand dieser grossen Haie in gewisser Weise wieder an ihren Anfang zurück. Kritisch
betrachtet, trägt diese Art der Vereinfachung nicht zur Lösung anstehender systematischer
Probleme bei. Aus paläoökologischer Sicht und im Hinblick auf entwicklungsgeschichtliche
Fragen der Grosshaie, ist besonders erwähnenswert, dass sowohl Zähne von Carcharocles
als auch von Carcharodon, auffallend häufig gemeinsam mit Resten von Walen und
anderen Meeressäugern vorkommen. Dies erlaubt die These, dass die evolutiven Geschicke der
grossen Haie eng an die Entwicklung der Meeressäuger gebunden war und damit indirekt durch sie
gesteuert oder mitbestimmt wurde. Daraus kann jedoch keine engere verwandtschaftliche Beziehung oder
gar Entwicklungslinie abgeleitet werden. Dies belegt lediglich, dass die meisten grossen Lamniden
"Spezialisten» waren, die durch die Ausbildung einer Sekundärzähnelung der
Zahnschneidekanten mehrmals innerhalb erdgeschichtlich kurzer Zeit eine ähnliche oder identische
Entwicklung zeigten. Es sei hier daran erinnert, dass gerade die lamniformen Haie bei diversen
Gattungen und Arten (Squalicorax, Pseudocorax, Carcharoides, Isurus escheri) in ihrer langen
Entwicklungsgeschichte wiederholt gezähnelte Zahnschneidekanten ausbildeten.
Die Fragen nach der Abstammung des «Carcharodon» megalodon und nach dem direkten
Vorläufer des Carcharodon carcharias können - bedauerlicherweise - nach wie vor nicht
befriedigend beantwortet werden.
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* René Kindlimann ist ein anerkannter Fachmann für fossile Haie.
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Donnerkeile:
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versteinerte Blitzeinschläge
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Megalodon:
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Grosszahn, griechisch
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Lamniform:
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Merkmalsübereinstimmung innerhalb der Familie der Makrelen- und Weisshaie
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Morphologie:
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erklärende und deutende Beschreibung organischer Gestalten
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Paläozän:
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zeitliche Periode im Tertiär (vor 65 - 57 Mio Jahren)
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Pliozän:
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zeitliche Periode im Tertiär (vor 5 - 1.5 Mio Jahren)
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Veröffentlichung nur mit Quellenangabe: Shark Info / René Kindlimann
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