Haie sind in aller Munde: Nicht nur als
Haiflossensuppe und Potenzmittel sondern auch wegen ihrer meist räuberischen Lebensweise und ihrer
vermeintlichen Blutrünstigkeit. Dabei wird vergessen, dass fast 70% aller zur Zeit lebenden (rezenten)
Haie sich besonders intensiv um ihren Nachwuchs kümmern und eine Form von Brutpflege betreiben, die
wir eher mit Säugetieren in Verbindung bringen: Die Weibchen bewahren nämlich ihre sich entwickelnden
Eier im Endabschnitt des Eileiters, der als Gebärmutter oder Uterus bezeichnet wird, auf und gebären
nach einer längeren Tragzeit weit entwickelte, ausserordentlich selbständige Junge, sie sind also
lebendgebärend. Der lange Aufenthalt im Muttertier schützt die Jungen wirksam vor Feinden. Im
folgenden beschränke ich mich weitgehend auf die Darstellung der Verhältnisse bei Haien, obgleich
manches davon auch für deren nahe Verwandte, die Rochen, gilt.
|
Ein Hammerhai-Weibchen mit 15
weitentwickelten Jungen, die aus der Gebärmutter entfernt wurden.
© D. Perrine |
|
Das Fortpflanzungssystem der Haie ähnelt dem der anderen Wirbeltiere - was auch zu erwarten ist
-, nicht aber dem der meisten Knochenfische. Für alle weiblichen Haie gilt zunächst folgendes: Ihre
Eier gelangen, wie beim Menschen, aus dem Eierstock in die Eileiter. Jeder Eileiter ist deutlich
gegliedert. Zuerst kommt ein Trichter, der die Eier auffängt. Dann folgt ein Abschnitt, der die
Schalendrüse beherbergt; sie ist besonders gut bei eierlegenden Arten entwickelt und dient dem Aufbau
der kompakten, schützenden Eikapsel. Der Bereich hinter der Schalendrüse geht in den Endabschnitt, die
Gebärmutter, über. Der Eileiter nimmt auch das Sperma der Männchen auf. Die Eier müssen natürlich weit
oben im Eileiter, noch vor der Schalendrüse, besamt werden, da die Spermien sonst die Eischale, die
von der Schalendrüse gebildet wird, nicht mehr durchdringen können.
Die Männchen haben für die bei
Haien übliche innere Besamung ihre Beckenflossen zu einem paarigen Begattungsorgan umgebildet.
Haie, ob
eierlegend oder lebendgebärend, produzieren mit ganz wenigen Ausnahmen relativ wenige, aber grosse,
dotterreiche Eier. Arten, die diese mit einer ausserordentlich widerstandsfähigen Hülle versehen und
frei ablegen, sind eierlegend. Die lebendgebärenden Arten umgeben ihre Eier nur mit einer sehr dünnen
Hülle.
Die Entwicklungsvorgänge der Embryonen
benötigen Energie. Die Wissenschaftler unterscheiden drei Möglichkeiten, wie der Embryo zu dieser
Energie kommt:
Eierlegende Haie:
- Der Embryo ernährt sich ausschliesslich vom Dotter, den er in seinem Ei findet.
Lebendgebärende Haie:
- Der Embryo ernährt sich ebenfalls nur von seinem Dotter,
wird jedoch lebend geboren. In diesem Fall wird von lecithotropher Viviparie
(lékithos, gr. = Dotter; trophé = Nahrung, vivipar = lebendgebärend)
gesprochen.
- Erhalten die Jungen nach einer Phase, in der sie vom Dotter zehren, bis zur Geburt
zusätzlich Nahrung von der Mutter, spricht man von matrotropher Viviparie
(máter, lat. = die Mutter). Die Menge an Nahrung, die von der Mutter bereitgestellt
wird, kann allerdings je nach Haiart ganz unterschiedlich sein.
Es versteht sich von
selbst, dass die von der Mutter zusätzlich gelieferte Nahrung zu den Jungen gelangt und von diesen
auch aufgenommen werden muss. Dies geschieht bei Haien, wie wir weiter unten sehen, auf
unterschiedliche und zum Teil ganz ungewöhnliche Art und Weise.
Erste grundlegende Untersuchungen zum Lebendgebären von Haien
und zur Ernährung der Jungen
in der Gebärmutter stammen von Johannes Müller (1801-1858), einem deutschen Physiologen, der vielen
als der Begründer einer wissenschaftlichen Zoologie gilt.
Als erster hat jedoch der griechische
Philosoph Aristoteles (384 -322 v. Ch.) die Ernährung von Embryos durch ihre Mutter beim Glatthai
Mustelus canis beschrieben. Aristoteles hat die sogenannte Dottersackplacenta entdeckt und unterschied
bereits zwischen eierlegenden Haien mit ihren Eikapseln und lebendgebärenden Arten.
Offenbar hat der
französische Naturwissenschaftler und Mediziner G. Rondelet (1507-1556) in seinen 1554 erschienenen
Büchern über die Meeresfische («Libri de piscibus marinis...») einen weiblichen Hai nach der
Beschreibung des Aristoteles abgebildet, der mit seinem Embryo durch eine Nabelschnur verbunden ist.
 |
Zeichnung aus Rondelets
«Libri de piscibus marinis...». |
|
Die Placenta der Haie wurde erst 1673 von dem dänischen Anatom N. Steno (1638-1686) wiederentdeckt und
abgebildet.
Müller waren diese alten Arbeiten bekannt und er zitiert sie auch,wie es sich gehört. Er
war sich aber mehr als seine Vorgänger der besonderen Bedeutung dieser und seiner eigenen Befunde
bewusst und präsentierte sie der Öffentlichkeit so, dass seine Studien den Beginn einer intensiveren
Erforschung der Fortpflanzung und Entwicklung von Haien und Rochen markieren.
Die von Aristoteles entdeckte, spezialisierte
Dottersackplacenta besitzen nur etwa 27% der lebendgebärenden Haiarten. Während der Entwicklung des
Embryos dieser Arten wird zunächst der Dotter verbraucht. Anschliessend werden die sehr dünne Eihülle
und der Dottersack (Anteil des Embryos an der Dottersackplacenta) durch komplizierte Falten so eng mit
der Gebärmutter (mütterlicher Anteil der Dottersackplacenta) verzahnt, dass beide nicht mehr so ohne
weiteres voneinander zu trennen sind. Die komplizierte Verzahnung resultiert in einer sehr grossen
Kontaktoberfläche, über die Nährstoffe (Aminosäuren, Zucker, Fette) aus der Mutter in den Embryo
gelangen. Abfallprodukte des Embryos (z.B. Harnstoff) gelangen in umgekehrter Richtung in den
Kreislauf der Mutter und werden von ihr ausgeschieden. Die Dottersackplacenta ist über einen
Dotterstiel, der zur Nabelschnur wird und Blutgefässe enthält, mit dem Embryo verbunden, wie auch auf
der Zeichnung von Rondelet zu sehen ist.
Die Haie, deren Embryos sich nur vom Dotter ernähren, haben
natürlich keine Dottersackplacenta. Die Embryonen des Dornhais Squalus acanthias büssen so während der
Entwicklung in der Gebärmutter bis zu 55% ihrer organischer Substanz ein, etwa so viel, wie Embryos
von eierlegenden Haien. Das ist auch verständlich, da ja nur die Energie aus dem Dotter, die nicht nur
in das Wachstum des Embryos fliesst, verbraucht werden und keine neue hinzukommt. Während der
Trächtigkeit hat bei dieser Art der Ernährung des Embryos die Gebärmutter lediglich für den Austausch
von Atemgasen sowie für den Transport von Wasser und Salzen zu sorgen.
Bei manchen
Haiarten kann die Gebärmutter oder Uterus eine Flüssigkeit absondern, meist über besondere
Ausstülpungen, die den bezeichnenden Namen «Uterusmilch» trägt. Da sie je nach Art mehr oder weniger
Nährstoffe enthält, führt sie zum Beispiel beim Dornhai Squalus acanthias nur zu 1%, beim
antarktischen Glatthai Mustelus antarcticus immerhin zu 110% Gewichtszunahme der Embryos.
Bei
manchen Haien können wahrscheinlich auch zusätzlich zur Dottersackplacenta Nährstoffe aus der Gebärmutter
über die vergrösserte Oberfläche der Nabelschnur aufgenommen werden (z.B. Scharfnasenhai,
Rhizoprionodon terraenovae).
Besonders dramatisch ist die Verpflegung
der Embryos bei manchen Makrelenhaien (Lamniformes), z.B. beim Heringshai, Lamna nasus, und vor allem
beim Sandtigerhai Carcharias taurus. Bei ersterem ist das Fressen von Eiern nachgewiesen worden, bei
letzterem zusätzlich noch das Fressen anderer Embryonen. Beim Heringshai bleiben letztendlich nur zwei
Junge pro Gebärmutter übrig, die unbefruchtete Eier fressen. Ihre gefüllten Mägen sind früher für
einen Dottersack gehalten worden. Beim Sandtigerhai sind die Verhältnisse etwas besser bekannt.
Anfangs findet sich in jedem Eileiter nur jeweils ein Ei. Weitere folgen und viele davon werden
befruchtet und entwickeln sich auch. Ein kleiner Prozentsatz der sich entwickelnden Embryonen bildet
vorzeitig Zähne und Sinnesorgane (Seitenlinienorgan) und verschlingt die unbefruchteten Eier und
anderen Embryonen, bis nur noch ein Embryo pro Gebärmutter, der stärkste, übrigbleibt. Die Eier und
Geschwister fressenden Jungtiere sind in der Gebärmutter ausserordentlich aktiv und schnappen nach
allem, was ihnen in die Quere kommt, selbst nach der Hand des Untersuchers. Man kann hier mit Fug und
Recht von Kannibalismus in der Gebärmutter sprechen.
Betrachtet man Grösse und Gewicht der Neugeborenen scheint das Fressen von Eiern oder Geschwistern
effektiver zu sein als die hochspezialisierte Dottersackplacenta. Bei Jungen, die über eine
Dottersackplacenta ernährt werden, steigt das Gewicht während der Entwicklung «nur» um maximal
etwa 1 000% (Blauhai, Prionace glauca 840%, Glatthai, Mustelus canis 1 050%), bei Jungen, die Eier und
Geschwister fressen (Sandtigerhai, Carcharias taurus) aber bis 1 200 000%.
Letztendlich kommt es bei
lebendgebärenden Haien nach einer erstaunlich langen Tragzeit - sie schwankt je nach Art zwischen 6
und 22 Monaten - zur Geburt der Jungen. Die Grösse der Neugeborenen hängt vom Dottervorrat,
zusätzlicher Ernährung durch die Mutter und natürlich auch vom Platz innerhalb der Gebärmutter ab und
bewegt sich - sieht man einmal von den Extremwerten ab -, meist zwischen 45 und 60 cm. Frischgeborene
Sandtigerhaie erreichen allerdings ca. 1 m und wiegen bis 9 kg, Weisse Haie bringen als Extremfall
Junge von ca. 1.3 m Länge zur Welt. Das sind Längen, die sehr viele erwachsene Knochenfische nicht
erreichen. Man kann daraus folgern, dass daher für den Junghai unter anderem die Anzahl möglicher
Räuber und Konkurrenten verringert und das Spektrum an Futtertieren erweitert wird. Die Vorteile, die
Junghaie haben, die ihre eigenen Geschwister oder Eier gefressen haben, liegen ebenfalls auf der Hand:
Es werden grosse, zum Teil über einen Meter lange, gewissermassen «erfahrene» Räuber geboren.
Bei all diesen Vorteilen scheint es für Haie kaum nötig zu sein, besonders zahlreiche Nachkommen in
die Welt zu setzen. Tatsächlich schwankt die Anzahl der Neugeborenen auch nur zwischen 2 und 40;
gelegentliche Berichte über mehr als 100 Junge (beim Sechskiemenhaie, Hexanchus) sind selten. Die
Neigung mancher Jungtiere von Haiarten, die in flachen Küstengewässern leben, sich in gebührender
Entfernung von den Erwachsenen in seichteren, beutereichen «Kinderstuben» aufzuhalten, bietet überdies
einen gewissen Schutz vor ihren Hauptfeinden, grösseren Artgenossen und anderen Haien.
Also scheint
das Lebendgebären für Haie alles in allem erfolgreich zu sein. Spontan möchte man dies bejahen, zumal
Haie schon so lange überlebt haben. Welches die treibenden Kräfte waren, die bei Haien die Evolution
von Lebendgebären begünstigt haben, ist weitgehend unklar. Eine wesentliche Voraussetzung für diese
Fortpflanzungsform ist die innere Besamung. Auffällig ist auch, dass die am Meeresboden und in den
Küstenregionen lebenden eierlegenden Arten alle nicht sehr gross sind und dass, im Gegensatz dazu,
lebendgebärende Arten ein grösseres Spektrum von Lebensräumen besiedeln. Bei Arten die im offenen Meer
leben, mag Lebendgebären von Vorteil sein, weil die Tiere keine bestimmten Orte aufsuchen müssen, die
für eine Eiablage geeignet wären. Es ist aber wahrscheinlich, dass sich auch die Jungen solcher Arten
in Kinderstuben zusammenfinden.
Nachdem der Mensch auf der Bildfläche erschienen ist, scheint aber die
geringe Fortpflanzungsrate in Verbindung mit einem relativ langsamen Wachstum und der spät
einsetzenden Geschlechtsreife - viele Arten werden erst mit 10 bis 12 Jahren fortpflanzungsfähig - für
Haie eher von Nachteil zu sein, da Verluste, wie bei einer Überfischung, nicht schnell genug wieder
ausgeglichen werden können.
|
|
|
Aphrodisiakum |
Potenzmittel; nach der griechischen Göttin der Liebe, Aphrodite |
Rezent |
zur Zeit lebend |
Uterus |
úterus, lat. = Gebärmutter |
Vivipar |
vivus, lat. = lebendig; párere, lat. = gebären
|
Ovipar |
ovum, lat. = Ei; párere, lat. = gebären
|
Ovar |
ovárium, lat. = Eierstock |
Sperma |
spérma, gr. = Samen |
Embryo |
émbryon, gr. = ungeborene Leibesfrucht |
Lecithotroph |
lékithos, gr. = Dotter; trophé = Nahrung |
Matrotroph |
máter, lat.= die Mutter; trophé = Nahrung |
Placenta |
placénta, lat. = Kuchen |
Glucose |
glykos, gr. = süss (Traubenzucker) |
Villi |
villus, lat. = die Zotte |
Trophonemata |
néma, gr. = Faden |
Oophagie |
oón, gr. = Ei; phagéin, gr. = fressen |
Adelphophagie |
adelphós, gr. = Bruder; phagéin, gr. = fressen |
Pelagial |
pélagos, gr. = Meer, offene See |
|